Oktober 2025 | Rolf-Gunter Dienst, Piccolo 10’10, 2010, Acryl auf Leinwand, 40 x 30 cm
Das ganze Bild ist, auch wenn es einen kompakt harmonischen Eindruck macht, dialektisch angelegt. Es gibt ein klares Oben und Unten, dazu signalhaft gegeneinandergesetzte Zeilen. In die streifigen Zeilen hinein sind wiederkehrende buchstabenartige Schlingen gemalt, so dass sich auch ein Vorn und ein Hinten gegenüberstehen. Selbst das Titelwort Piccolo bildet eine fast perfekte Abfolge von Gegensätzen. Die Vokale wechseln sich nahezu makellos mit den Konsonanten ab. Zugleich verspricht das hübsche Wort eine Freude am Kleinen, die vom damit betitelten Bild erfüllt wird. Das kleinformatige Bild – es gibt eine Reihe aus ähnlich aufgebauten Bildern gleicher Größe – verweist mit seinem malend-schreibenden Duktus auch auf die visuelle Poesie, die Rolf-Gunter Dienst früher in der mit seinem Bruder herausgegebenen Zeitschrift Rhinozeros vorstellte. Wo die Zeichen an der Unlesbarkeit entlang trieben, waren sie, so wie hier, von beherztem Unsinn und leichtfüßiger Vieldeutigkeit.
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März 2025 | Michael Kaul, "Katze im Sack“, 2021, Acryl auf Nessel, 18 x 13 cm

Das Bild ist auch ein Objekt. Es besteht aus ganz gewöhnlichem, weiß grundiertem Leinen auf einem Holzrahmen. Nur davon ist kaum etwas zu sehen. Denn ein sackartiger Stoff wurde darüber gezogen, und von dem stehen oben links und rechts zwei Falten ab wie entzückende Öhrchen. Unten bildet er schnurrige Fransen. Dazwischen schlägt er Wellen. Und auf diesen Wellen sind kleine, huschelige Tupfen aus blauer und weißer Farbe. Sonst nichts. Sie könnten Krallen darstellen, die umherpieken oder Augen, die durch Maschen gucken. Eine Katze kriecht ja gern in alle möglichen Dinge hinein. Hier ist es, als wäre das nicht nur irgendein Sack, in dem sie sich versteckt, sondern, als würde sie in ihrem eigenen Kopf herumsausen.
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Februar 2025 | Thaddäus Hüppi, "Beure blanc", 2021, Keramik, Porzellan, Holz, Emaillack

Welche magischen Schwingungen die Alltagsdinge aussenden, lässt sich an Kaffeesatz- und Teeblattorakeln erahnen, die mit Hilfe von Tassen ausgeführt werden. Wenn dann in einer von Harry Potters Schulstunden eine Teetasse in ein pelziges Tierchen verwandelt werden soll, weckt das Gedanken an Meret Oppenheims Tasse mit Fell. Man kann auch gleich weiterdenken bis hin zu einer plappernden Tasse, die kurz zuvor noch ein plappernder Junge war, aber nun zum verzauberten Haushalt des biestigen Schlossherrn eines Disneyfilms gehört. In unserem Fall erhebt sich ein freundlicher Kopf mit einem herzförmigen Gesicht aus einer golddekorierten Tasse. Der keck aufgesetzte Hut ist von der Kaffeekanne übernommen, die nun irgendwo ohne Deckel dasteht, was aber vielleicht gar nicht schlimm ist. Denn die beschwingte Skulptur verzaubert und man glaubt fest daran, dass inmitten der normalen Dinge kleine, herzerfrischend freundliche Wunder möglich sind.
Januar 2025 | Michael Kaul, "Lemon Ballet“, 2023, Acryl auf Nessel, 48 x 55 cm

Der Titel selbst ist wie ein Bild. Aber statt dort tanzenden Zitronen zu begegnen, trifft man ebenso gern auf helle Streifen und dunkle Flecken vor fruchtig gelbem Hintergrund, und freut sich sogar über die getrickste Schieberei zwischen Wort und Bild. Das Gemalte ist gebaut aus starken Farb- und Formkontrasten. Direkt auf der Leinwand waren die stoffhellen Streifen, die stehen bleiben sollten, lässig abgeklebt. Danach wurde das Gelb aufgetragen und, solange es feucht war, das Schwarz aufgebracht, das sich zu buschigen Inseln auswuchs. So entstand vor dem Gelb eine Antithese zwischen hell gebliebenem Band und dunkel gewordener Wirrnis. Das Gelb ist der Möglichkeitsraum für die Notation ihrer rätselhaften Beziehung, in der sich Streifen und Flecken stets und in ähnlichen Konstellationen begegnen. Dennoch bleibt ungewiss, ob damit ein kausaler Zusammenhang gemeint ist oder auf einen Zufall angespielt wird. Nichts für schnelle Schlüsse. Das Bild ist eine gemalte Koinzidenz.
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Dezember 2024 | Yutaka Minegishi, "Sahnehäubchen“, 2013, Ring, Mammutbein, 5 x 3,5 cm

Wobei der scheinbare, dicke Sahneklecks auch an seine Herkunft erinnert. Denn der Ring sieht aus wie Milch und Milch spendende Brust in einem. Der Dezember wiederum ist der Monat heiliger Festlichkeiten zu Ehren eines Neugeborenen. Die Ernährung des kleinen Jesu, der aus der Brust seiner Mutter Maria trinkt, ist ein herausragendes Motiv der Kunstgeschichte (siehe „Maria lactans“) und trägt dazu bei, die menschliche Seite des Heiligen zu vergegenwärtigen. Der hier vorgestellte Ring besteht aus Mammutbein, also aus etwa 10.000 Jahre altem Elfenbein, das wegen seines Alters und seiner bereits ausgestorbenen Liefertiere nicht unter die Artenschutzkonvention fällt und weiterhin gehandelt werden darf. Zum Schmuckstück gehört ein hübsches Kästchen aus rot bespanntem Holz mit geschrägten Kanten, die es elegant verschließen. Innen ist es mit schwarzem Velours ausgeschlagen. Ein ähnlicher Ring wurde von der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne München angekauft.
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August 2024 | Kim Reuter, ohne Titel (201305), 2013, Eitempera auf Leinwand, 18 x 24 cm

Kleines Bild, große Landschaft, weites Gefühl. Kommt man dem Bild ganz nah, dann ist es, als würde man direkt hineinspazieren und nicht anderes mehr sehen als das Meer, das auf schmalen Wellen einen zarten Hauch von Helligkeit schaukelt. Das streifige Gold der Sonne ist allein dem Himmel vorbehalten. Ganz vorn steht eine Frau, die Füße dort, wo der Sand nass ist, und blickt zu einem weit entfernten Segel. Die Frau und das Segel sind in einer Linie über das Meer hinweg verbunden. Über dasselbe Wasser hinweg, welches das segelnde Schiff davonträgt und vor ihren Füßen über den Strand rinnt.
Juli 2024 | Mirei Takeuchi, ohne Titel, 2016, Halsschmuck, Eisen gelasert, Edelstahl

Mit bloßen Händen ist der Künstler ans Werk gegangen. Ihre konservierte Spur bedeutet: Ich lebe und habe dies geformt. Doch bleibt das Ich nicht mit sich selbst allein. Es hat sich mit der äußeren Welt verbunden, als es sich in sie eingefurcht und eingeknetet hat. Und es hat sich mit uns verbunden, indem es etwas tat, was wir alle tun könnten. Wir müssten nur mit unseren Händen in feuchtem Sand graben oder einen Batzen Lehm kneten. Das Besondere aber ist, das der Künstler dabei eine Form fand, uns etwas Innerliches mitzuteilen. Denn seine Hände haben gegeneinander gearbeitet. Ihre Bewegung strebt in zwei Richtungen. Doch die leicht verdrillte Mitte der kleinen Plastik ist stabil. Sie wird nicht zerrissen. Ebenso wenig wie das Ich, dem die Bewegung der Hände und der sie auslösende Wille zugehören. Im Einfachsten also liegen unverhoffte Botschaften, die uns ins Innere der Dinge führen.
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